Von der Provence ins Oderbruch

Das rebellische Schaf, ein Markenzeichen der Europäischen Kooperative Longo maï

„Was für ein großartiger Stoff!“, schwärmte Thomas vor einer Weile. „Daraus mach ich das nächste Stück.“

Vorige Woche nun die Premiere. Blech und Bäume oder das Glück der Stille, mit der Erzählung Der Mann, der Bäume pflanzte aus dem Jahr 1953 von einem Franzosen namens Jean Giono. Ein Schäfer in der Provence, der sieht, wie Landschaft und Menschen immer karger werden, weil der Wald stirbt. Also pflanzt er Bäume, Tag für Tag, Jahr für Jahr, sein ganzes Leben lang.

Erinnerungen werden wach. Anfang der Neunziger habe ich drei Jahre in der Provence gelebt, auf einem ebenso kargen wie schönen Hügel, einer wie ihn Jean Giono beschrieben hat. Vom Mann, der Bäume pflanzte, hörte ich damals oft. Der Autor kam aus dem Nachbarort.

Was Giono aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts beschrieb, das war in dessen zweiter Hälfte nicht besser geworden, sondern schlimmer: verkarstete Landstriche im gesamten Mittelmeerraum, verlassene Dörfer, mutlose Menschen. Schafe, denen die Wolle weggezüchtet wurde, weil diese in Neuseeland billiger produziert werden konnte.

Rebellische Jugendliche aus der Schweiz und Österreich waren schließlich in den frühen siebziger Jahren auf die Idee gekommen, mit unzufriedenen jungen Leuten aus ganz Europa Pionierkooperativen aufzubauen, in ebenjenen verlassenen Gegenden. So entstand 1973 die Europäische Kooperative Longo maï.

Ich erfuhr das alles 1990 aus Erzählungen meiner Freunde, die tatsächlich aus den verschiedensten europäischen Ländern in die Provence gekommen waren. Von dem Leben in den Kooperativen – es gab damals schon ein knappes Dutzend in Frankreich, Österreich und der Schweiz – war ich begeistert. Esoterische Ökos gab es dort keine. Dafür eine riesige Schafherde, eine Spinnerei zur Verarbeitung der Wolle, ein freies Radio samt Europäischer Föderation Freier Radios, ein Europäisches Komitee zur Verteidigung von Flüchtlingen und Gastarbeitern, vielfältigste, kluge Aktionen mit vernetzten Partnern in ganz Europa, dazu rauschende Feste, viel Musik und spannende Gäste von überallher – und als Basis von alldem ein wieder bewohnbar gemachter Hügel in der Provence mit drei renovierten Weilern, Gärten, Feldern und vielen gepflanzten Bäumen, ganz wie in Gionos Buch, das in Longo maï sehr geschätzt wurde.

Mithilfe der zahlreichen Osteuropäer, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nach Longo maï gekommen waren, entstand 1990 in der Provence das Europäische Bürgerforum mit neuen Aktionen. Ich erinnere mich an den Aufbau eines Netzes unabhängiger Journalisten aus den verfeindeten Republiken mitten im Jugoslawien-Krieg, an ein internationales Fest im Berliner Haus der Jungen Talente „4. November – nicht vergessen!“ ein Jahr nach der legendären Großdemonstration auf dem Alexanderplatz, an die europaweite Unterstützung der streikenden Studenten an der Humboldt-Uni.

Eine Gruppe Ostdeutscher gründete damals eine Europäische Kooperative im Oderbruch. Ansässig im Vorwerk Basta bei Letschin, kämpfte sie mit vielen lokalen Mitstreitern dafür, dass das ehemalige Staatsgut Wollup nicht von der Treuhand verkauft, sondern in Gemeineigentum umgewandelt wird. Es sollte ein Pilotprojekt werden, selbst Ministerpräsident Stolpe war dafür. Am Ende wurde doch verkauft.

Die Europäische Kooperative zog vom Oderbruch auf den Ulenkrug nahe Demmin in Mecklenburg-Vorpommern. Dort ist sie nach wie vor aktiv, lokal wie international, landwirtschaftlich, politisch, kulturell. Unter anderem setzen sich die Aktivisten seit Jahren für das Thema Saatgut ein, mehrfach beteiligten sie sich an der Tauschbörse für Saatgut und Pflanzen, die wir in jedem Frühjahr im Theater veranstalten. Auch die anderen Kooperativen gibt es noch: in der Provence, im Schweizer Jura, in den österreichischen Karawanken, in Rumänien, der Westukraine und Costa Rica. Auf dem Hof Basta betreibt heute ein Hofkollektiv eine Solidarische Landwirtschaft. Erst in diesem Frühjahr waren Vertreter beim Podiumsgespräch der Ökofilmtour in unserem Theater dabei.

Jean Gionos Schäfer, er lebt.

Uwe Wolf
kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit am Theater